Lebenslanges Lernen braucht Anrechnung
3. Mai 2021
Ein Studium ist bekanntermaßen ein zentrales Gestaltungselement für die berufliche Qualifikation, und auch für die berufliche Karriere, Weiterbildung und Neuorientierung. Dabei rückt die Möglichkeit der Anrechnung außerhochschulisch erworbener Kompetenzen Studienmöglichkeiten näher an die Lebensrealität von Berufstätigen: Sie öffnet Türen, ebnet Bildungswege und kann Studienzeiten verkürzen. Auf der anderen Seite bereichert Anrechnung aber auch das Hochschulleben. Denn Studierende mit Berufserfahrung können ihre Erkenntnisse, Erlebnisse und persönlichen Perspektiven direkt mit in die Lehrveranstaltung einbringen. Sie regen Diskurse an, befördern eine fachliche Weiterentwicklung in der Lehre und bringen ihre beruflichen Kontakte und Netzwerke indirekt mit auf den Campus, was wiederum die Möglichkeiten für neue Kooperationen eröffnet und den Austausch zwischen Hochschule und Wirtschaft erhöhen kann.
Die Frage „Warum Anrechnung?“ dürfte damit hinlänglich begründet sein. Auch der Nationale Bericht zur Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses widmet dem lebenslangen Lernen ein ganzes Kapitel. Mit der Öffnung der Hochschulen für neue Studierendengruppen wollen Bund, Länder und Hochschulen auf den Fachkräftebedarf reagieren, Chancengleichheit herstellen und den geänderten Ansprüchen des Arbeitsmarktes begegnen. Für dieses erklärte Ziel bildet Anrechnung eine grundlegende Voraussetzung. Offen bleibt die Frage: „Wie kann Anrechnung funktionieren?“
Wie kann Anrechnung gelingen?
Die Entscheidung, ob eine beruflich erworbene Kompetenz angerechnet werden kann oder nicht, liegt meistens bei den Modulverantwortlichen und in letzter Instanz beim Prüfungsausschuss. Die Frage der Anrechnung ist häufig herausfordernd, weil die Erfahrung mit dem Thema Anrechnung fehlt und persönliche Bildungsbiografien keine Bewertung nach einer Schablone zulassen. Anrechnung resultiert aus individueller Betrachtung der bisherigen Leistungen und Kompetenzen einer Person – unabhängig davon, ob diese formal (etwa einer Ausbildung), non-formal (z.B. durch eine innerbetriebliche Weiterbildung) oder gar informell (etwa durch eigene Berufspraxis) erworben wurden. Letzterer Fall ist besonders anspruchsvoll. Studierende müssen sich realistisch selbst einschätzen und bereits erreichte Lernziele ausformulieren können und erst auf dieser Selbsteinschätzung baut die Bewertung ihrer Kompetenzen seitens der Hochschule auf. Gleichzeitig braucht es Richtwerte – zur Orientierung, Qualitätssicherung und auch der Fairness zuliebe. Die Hochschulen müssen sich profilieren. Sie gewinnen nicht, wenn sie möglichst viel anrechnen. Vielmehr müssen sie dafür bekannt werden, Anrechnung effizient und gewinnbringend für beide Seiten zu gestalten. Doch wie soll dies alles bei begrenzten Ressourcen zu leisten sein?
Einstellungswandel an den Hochschulen
Zum einen bedarf es bei der Anrechnung außerhochschulisch erworbener Kompetenzen genau wie bei der Anerkennung von Kompetenzen, die an einer anderen Hochschule erworben wurden, eines Kulturwandels in der Hochschullandschaft, wenngleich sich dies im Falle der Anrechnung deutlich komplizierter gestaltet. Offenheit und Einsicht, dass auch außerhalb der Hochschule notwendige Voraussetzungen für ein Modul geschaffen und geforderte Kompetenzen erworben werden können, machen überhaupt erst möglich, über Anrechnung und ihre Umsetzung zu diskutieren. Im formalen und non-formalen Bereich ist hier in den vergangenen Jahren bereits viel passiert. Nun ist es an der Zeit, sich intensiv dem informell Erlernten zu widmen. Das braucht aber mehr als einen Kulturwandel. Mindestens genauso wichtig sind klare Handlungsempfehlungen und gute professionelle Strukturen. Studierendenservice wie auch Fachbereiche, Modulverantwortliche wie auch Prüfungsausschüsse sind gefordert und benötigen ein einheitliches Portfolio, das eine individuelle Betrachtung der Lebenssituation und der erworbenen Kompetenzen ermöglicht. Dabei muss auch die Heterogenität in den Biografien berücksichtigt werden: Denn gerade Studierende mit Berufserfahrung sind in ihrem Alltag mit vielen unterschiedlichen Pflichten konfrontiert. Sie sind bestrebt, ihr Studium erfolgreich zu absolvieren, gehen häufig einer Erwerbstätigkeit nach, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, haben oft familiäre Fürsorgepflichten und übernehmen gesellschaftliche Verantwortung im Ehrenamt. Die Studierenden selbst müssen dafür sensibilisiert werden, zu erkennen und zu bewerten, welche relevanten Kompetenzen sie bereits ins Studium mitbringen. Diese sollten schließlich sinnvoll in einem System erfasst werden. So können die Biografien der Studierenden individuell betrachtet werden und Ergebnisse systematisch mit in nachfolgende Entscheidungen einfließen.
Den Anrechnungsprozess verbessern
Das HRK-Projekt „MODUS – Mobilität und Durchlässigkeit stärken“ kann wichtige Unterstützung leisten, um das benötigte Portfolio zu etablieren und den gesamten Bewertungsprozess zu digitalisieren. Dies wird die gute Qualität der Lehre schützen und die Abläufe der Anrechnung erleichtern. Doch auch digitalisierte Verfahren erzeugen Aufwand. Aufwand, der allein von den Modulverantwortlichen und Prüfungsausschüssen nicht leistbar ist. Anrechnung gelingt somit nur, wenn die Hochschulen die entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen dafür bereitstellen können. Hier ist die Politik gefragt, die sich nicht aus der Verantwortung ziehen darf. Denn Anrechnung funktioniert nur als Summe aus Akzeptanz, Struktur, Digitalisierung und politischer Voraussetzung – multipliziert mit Engagement und Arbeit auf beiden Seiten: von der Hochschule wie auch von den Studierenden. Denn am Ende ist ein Studium ein einzelner Baustein in einer komplexen, individuellen Bildungsbiografie.
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