Inside Out: Zuverlässige Wege zur Implementierung von Microcredentials

25. Januar 2024

Seit die EU im Juni 2022 ihre „Empfehlung des Rates zu einem europäischen Ansatz für Microcredentials für lebenslanges Lernen und Beschäftigungsfähigkeit“ (Rat der Europäischen Union, 2022) herausgebracht hat, kommen Microcredentials wie ein großes Versprechen daher: Wissenslücken können ausgeglichen, übergeordnete Kompetenzen entwickelt, Zugänge ermöglicht werden. Über klassische Formen der akademischen oder beruflichen Ausbildung hinaus stellen Microcredentials im Kontext des lebenslangen Lernens für viele Menschen neue Chancen dar. Die Bedarfe an Zusatzqualifikationen im Kontext von (Post-)Globalisierung, Digitalisierung und Klimakatastrophe sind groß und betreffen auch Menschen, denen ein leichter Zugang zu Bildung bislang nicht zur Verfügung stand (vgl. OECD, 2022; BMAS, 2022).

Ein Blick in die Welt der praktischen Umsetzung an den Hochschulen in Deutschland macht jedoch schnell klar, dass der größte Vorteil der Microcredentials, ihre Flexibilität, bei der Implementierung in bestehende Strukturen auch die größten Herausforderungen mit sich bringt. Microcredentials können nicht leichtgängig in immer wiederkehrende, langfristig planbare und lineare Prozesse eingebunden werden, wie Studiengänge sie in der Verwaltung der Hochschulen erfordern. Vielmehr stellen Microcredentials als flexible Studienformate gerade in der Verwaltung zusätzliche Anforderungen in den Bereichen Planung und Dokumentation, Überprüfung und Qualitätssicherung sowie Anerkennung und Anrechnung. Hier hat die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) mit ihrer Handreichung von März 2023 gangbare Wege geebnet (vgl. HRK, 2023). Und dennoch, bestehen bleibt die Herausforderung der Implementierung in durchaus komplexe Verwaltungsstrukturen der Hochschulen.

Diese operationalen Anforderungen an die Verwaltungen gilt es seitens der Entwickler:innen von Microcredentials unbedingt transparent und leicht umsetzbar zu gestalten, denn eine kategorische Ablehnung von Microcredentials durch die Verwaltung können sich Hochschulen gerade aufgrund der großen Potentiale dieser flexiblen Lerneinheiten nicht erlauben. Auch werden Hochschulleitungen den Kritiker:innen aus den Reihen der Hochschullehrer:innen, die schon immer den Verfall einer lange gepflegten, kontinuierlich aufeinander aufbauenden Lernkultur befürchteten, nicht einfach nachgeben wollen, nur weil bei der Entwicklung der Microcredentials die adäquate Umsetzung in der Verwaltung nicht bedacht worden ist. Und schon gar nicht sollen die mit viel Innovation und Kreativität entwickelten flexiblen Lerneinheiten als Erstes scheitern, weil z. B. keine Credit Points vergeben werden können – nein, die Implementierung von Microcredentials will auf allen Ebenen der Verantwortlichkeit wohl geplant und umsichtig betreut sein; mutmaßlich muss auf ein solches strukturelles Mit- und Vordenken genauso viel Zeit und Intensität verwendet werden wie auf die fachliche Entwicklung der Microcredentials selbst.

Und tatsächlich: Für die Implementierung von Microcredentials als Beginn einer Entwicklung, die zu einem sehr viel flexibleren Hochschulwesen in Europa führen soll und kann, zeigen sich nach ersten Erfahrungen durchaus praktikable Wege, ohne dass Hochschulen ihre Abläufe und auch ihre Kultur sofort radikal auf den Kopf stellen müssten. Einer dieser Wege heißt – holzschnittartig abgekürzt – „von innen nach außen entwickeln“, d. h. von Studiengängen ausgehen und sie zunächst mit Bedarfen der Hochschule selbst in eine kausale Verbindung bringen, bevor dann später auch innovativere Wege gewählt werden. Für eine erste Annäherung an die Potentiale möglicher Flexibilisierung scheint dies ein gut geeigneter Ansatz.

Ein Beispiel: Für die Zulassung zu einem Master-Studiengang fehlen den Studienbewerber:innen laut Prüfungsausschuss häufig die immer gleichen Voraussetzungen – warum nicht die Mathematik-Vorkurse zum Muster nehmen, mit deren Hilfe man an technischen Universitäten bei Bachelor-Studiengängen ein Scheitern der Studienanfänger:innen in den ersten Semestern verhindern will? Für eine Zulassung zum Master-Programm kann entsprechend ein Vorkurs entwickelt werden, mit dem Bewerber:innen fehlende Kompetenzen zur Belegung des Master-Programms ausgleichen können. Und soll dieser Master-Studiengang besonders beworben werden, kann aus einem Modul des Master-Programms eine Summer School für internationale Teilnehmer:innen geschaffen werden, die auf den Studiengang anerkannt werden kann, sollte sich ein/e Teilnehmer:in nach der Summer School für den Verbleib an dieser Hochschule entscheiden. Auch sind ergänzende Microcredentials zu dem Master-Programm denkbar, die sich mit einem Schwerpunkt des Programms zu einer fachlich ergänzenden Zusatzqualifikation in Form eines Micro-Degree-Programms bündeln lassen.

Kurzum: Microcredentials sind nichts grundsätzlich Neues, alle auch früher genutzten Kleinformate können unter dieser Bezeichnung eingesetzt werden. Tatsächlich neu sind jedoch die Kumulierbarkeit und die Systematik der Verschränkung mit dem Studienangebot. Der Ausgestaltung des kleinen und flexiblen Lernformats sind kaum Grenzen gesetzt, ein nachhaltiger Erfolg stellt sich allerdings nur ein, wenn auch die Implementierung von Anbeginn mitgedacht wird. Die Königsklasse scheint schließlich erreicht, wenn es Hochschulen ohne große Komplikationen in der Verwaltung und ohne Turbulenzen in der Qualitätssicherung gelingt, sowohl auf Bachelor- als auch auf Masterebene fakultätsübergreifende Zusatzqualifikationen für Studierende und – in gesonderten Gruppen – für Weiterbildungsteilnehmende zu entwickeln und zu implementieren. Diese sollten ohne nennenswerte Verlängerung der Studienzeit zusätzlich zum Studium oder berufsbegleitend belegt und erfolgreich abgeschlossen werden können. Wenn die Microcredentials dann noch mit einem transparenten Nachweis der Hochschule bestätigt werden, ist das Ziel der Ziele erreicht.

Der Weg allerdings, hier sollte man sich nichts vormachen, ist ein weiter. Und auf der Checkliste ganz oben steht: Wurde die Verwaltung ausreichend einbezogen?

Je nach Profil und Strategie der jeweiligen Hochschule sind viele Ausgestaltungen von Microcredentials für verschiedene Bedarfe denkbar (vgl. Wittich, 2023, S. 253-267). Wichtig scheint, dass mit dem Modell Microcredentials auf allen Qualifikationsstufen nach dem deutschen und dem europäischen Qualifikationsrahmen gearbeitet werden kann (vgl. BMBF; EU). Von Vorkursen für Bachelor-Studiengänge über Summer Schools auf Master-Niveau und Zusatzqualifikationen sowohl für Bachelor- wie für Master-Studierende bis hin zu internationalen Angeboten für Postgraduierte in Themen der Spitzenforschung ist alles denkbar.

Auch wissenschaftliche Weiterbildung kann gut angebunden werden, etwa durch Microcredentials für Absolvent:innen der Hochschulen, denen neueste Entwicklungen in der Forschung ihres Faches vermittelt werden können. Umsetzbar allerdings und nachhaltig wirksam im Sinne eines dauerhaften Angebots und einer sinnhaften Ergänzung bestehender Qualifikationen werden Microcredentials erst, wenn ihre Implementierung sorgfältig durchgeplant wird – schon der Gedanke, eine Notlösung in der Studienverwaltung für sie zu ersinnen, muss unbedingt abgelehnt und stattdessen eine tragfähige Dauerlösung angestrebt werden.

Seit bald einem Vierteljahrhundert arbeiten europäische Hochschulen nach einem vereinheitlichten Modell, das den Namen einer der ehrwürdigsten Universitätsstädte des Kontinents trägt: Bologna. Was auf den ersten Blick so schwierig erscheint – die Überwindung der Diskrepanz zwischen langfristig und linear angelegten Studiengängen und den hochflexiblen Alleskönnern mit Namen Microcredentials – ist in Wahrheit im Rahmen des Bologna-Reformprozesses gut zu implementieren, wenn man prinzipielle Setzungen zugrunde legt:

  • Microcredentials sollten zunächst aus Studiengängen heraus oder als Vor- oder Ergänzungskurse zu ihnen entwickelt werden und z. B. in Schwerpunkten auf sie anerkannt werden können bzw. anrechenbar sein.
  • Für die Bestätigung von Microcredentials und Micro-Degree-Programmen sollte das European Credit Transfer Systems (ECTS) genutzt und transparent nachgewiesen werden, was genau bei welchen Voraussetzungen auf welchem Niveau mit welcher Zielsetzung erlernt wurde.
  • Hochschulen sollten Sorge tragen, dass Microcredentials im Verwaltungssystem Studienangeboten als Vorkurs, Schwerpunkt oder Zusatz zugeordnet sind; dies ermöglicht, dass sie nicht nur leicht verwaltet, sondern auch mit den Studiengängen akkreditiert bzw. reakkreditiert werden können, denn auch Microcredentials sollten einer Qualitätssicherung unterliegen.
  • Wenn nachhaltige Bildung angestrebt wird, sollten nicht beliebig Microcredentials nebeneinandergestellt oder aneinandergereiht werden, sondern sinnhaft fachlich begründete Gruppen von Microcredentials und Bezüge zu bestehenden Programmen gebildet und sie so gut implementiert werden, dass auf den Erfahrungen weiter aufgebaut werden kann.

An der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover beschäftigen wir uns in der Leibniz AI Academy mit Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und das Land Niedersachsen mit der Entwicklung eines inter- und transdisziplinären sowie fakultätsübergreifenden Angebots an AI-Micro-Degree-Programmen. Das Projekt hat eine Laufzeit bis Ende 2025 und wird dann verstetigt. Wir haben viele Erfahrungen gemacht, darunter die, dass der Einbezug der Verwaltung ein Garant für die nachhaltige Implementierung von Microcredentials an Hochschulen ist. Unsere Erfahrungen haben wir in einem Bericht zusammengestellt, weil wir der Ansicht sind, dass wir bei so herausfordernden Prozessen voneinander lernen sollten:

  • Elke Katharina Wittich mit Ralph Ewerth, Johannes Krugel und Marius Lindauer: How to build Micro-Degree-Programmes. Das Projekt der Leibniz AI Academy an der Leibniz Universität Hannover, Repositorium der TIB Technischen Informationsbibliothek Hannover (in Vorbereitung).

 

Quellen

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2022): Weiterbildung mit Strategie. https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Aus-und-Weiterbildung/Berufliche-Weiterbildung/Nationale-Weiterbildungsstrategie/nationale-weiterbildungsstrategie.html (letzter Aufruf am 23.12.2023).

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (o. D.): Der Deutsche Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen. https://www.dqr.de/dqr/de/home/home_node.html (letzter Aufruf am 23.12.2023).

Europäische Union (EU) (o. D.): Was ist der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR)? https://europa.eu/europass/de/what-european-qualification-framework-eqf (letzter Aufruf am 23.12.2023).

Hochschulrektorenkonferenz (HRK) (2023): Microcredentials an Hochschulen – strategische Entwicklung und Qualitätssicherung Ergebnisse der Zukunftswerkstatt Microcredentials. https://www.hrk-modus.de/media/redaktion/Downloads/Publikationen/MODUS/Ergebnisse_der_ZW_Microcredentials_WEB_01.pdf (letzter Aufruf am 23.12.2023).

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) (2022): Bildung auf einen Blick 2022. OECD-Indikatoren. Wbv Media, Paris. https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/dd19b10a-de.pdf?expires=1704814233&id=id&accname=guest&checksum=B56E9A469A4AF41859A813ED2A08BD2D (letzter Aufruf am 23.12.2023).

Rat der Europäischen Union (2022): Empfehlung des Rates über einen europäischen Ansatz für Microcredentials für lebenslanges Lernen und Beschäftigungsfähigkeit. https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9237-2022-INIT/de/pdf (letzter Aufruf am 23.12.2023).

Wittich, Elke Katharina (2023): Micro-Credentials – Pragmatische Ansätze für die Einlösung großer Versprechen. In: AQ Austria: hochschul|bildung weiter|gedacht. Lebensbegleitendes Lernen an Hochschulen. Standpunkte und Perspektiven. Wien, Facultas. S. 253-267. Online verfügbar: https://www.aq.ac.at/de/veranstaltungen/dokumente-jahrestagung_2022/Hochschul_bildung_weiter_gedacht_epdf_V1.pdf?m=1702307993& (letzter Aufruf am 17.01.2024).


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