Digitalisierung an Hochschulen
Fragen an Dr. Harald Gilch, HIS-Institut für Hochschulentwicklung e. V. (HIS-HE)
Wo stehen die Hochschulen in Deutschland beim Thema Digitalisierung heute?
Wie sich im März 2020 bei der kompletten Umstellung auf Online-Lehre in Folge der Corona-Pandemie gezeigt hat, sind die Hochschulen in Deutschland generell digital recht gut aufgestellt. Natürlich hat es am Anfang etwas gehakt, waren doch vor allem die Serverkapazitäten oft nicht ausreichend, um von digitaler Lehre in einzelnen Fächern und bei digitalen Pionieren kurzfristig auf Volllast mit ca. 2,9 Mio. Studierenden im WiSe 2020/21 umstellen zu können. Angesichts der Ergebnisse aus der Studie zur Digitalisierung der Hochschulen, die wir von HIS-HE für die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) durchgeführt haben, ist dies auch nicht weiter überraschend. So schätzten schon im Jahr 2019 fast 80 Prozent der Hochschulen ihren Stand der Digitalisierung im Bereich Lehren und Lernen als sehr hoch, hoch oder zumindest mittel ein. Der Implementierungsgrad von Learning-Management-Systemen wie beispielsweise Moodle oder Ilias wurde mit über 55 Prozent als „vollständig“ und mit weiteren fast 30 Prozent als „teilweise“ angegeben. Trotz dieser positiven Befunde gibt es leider keinen Anlass zu Euphorie:
- Selbst wenn Systeme und Infrastruktur für die digitale Lehre weitgehend vorhanden bzw. inzwischen aufgebaut sind – viele Lehrende haben sich erst im Zuge der Corona-Pandemie aktiv mit den Systemen auseinandersetzen müssen und obwohl inzwischen eine gewisse Routine vorhanden ist: In vielen Fällen wird jetzt klassische Präsenzlehre einfach digital angeboten. Eine wirkliche Transformation der Lehre findet in den meisten Fällen noch nicht statt.
- Online-Lehre hört häufig dann auf, wenn es um Prüfungen, Nachweise und Unterschriften geht. Sicherlich experimentieren viele Hochschulen, Fachbereiche oder Studiengänge mit online-Prüfungsformaten. Es werden aber ganz schnell rechtliche oder technische Grenzen gesetzt, wenn in Online-Klausuren wie bei Präsenzklausuren Aufsichten erforderlich sind. Beispielsweise haben viele Hochschulen ihre Studien- und Prüfungsordnungen entsprechend geändert, um Lehrenden und Studierenden Rechtssicherheit im Spannungsfeld zwischen digitaler Prüfungsaufsicht mit Video und Ton einerseits und Schutz von Persönlichkeit und Privatsphäre andererseits zu geben. Gleichwohl sind diese Änderungen häufig im Sinne der Erprobung befristet (z. B. an der Universi-tät Potsdam bis Ende des Sommersemesters 2022) und inwieweit diese Regelungen einer gerichtlichen Überprüfung standhalten, muss sich erst noch zeigen.
- Noch gravierender scheint aber, dass in der Verwaltung noch viele Prüfschritte – insbesondere dann, wenn damit rechtliche Folgen verbunden sind – mehrheitlich papierbasiert ablaufen. Zwar sind auch die Campus-Management-Systeme, die z. B. den Studierenden den Online-Zugriff auf ihren Notenspiegel ermöglichen, an fast 90 Prozent der Hochschulen ganz oder teilweise implementiert. Vollständige digitale Workflows des Student-Life-Cycle – vom Eintritt (=Immatrikulation oder Wechsel aus einer anderen Hochschule) bis zum Austritt (= Exmatrikulation oder Wechsel an eine andere Hochschule) sind – wenn überhaupt – bisher allenfalls rudimentär vorhanden. Dieses Defizit gilt ganz besonders für die hochschulische Vernetzung und übergreifende Authentifi-zierung mit anderen hochschulübergreifenden bzw. externen Institutionen (wie z. B. Schulen, andere Hochschulen, Krankenkassen, Finanzämter, Familienkassen, BAföG-Ämter) obwohl das im Jahr 2017 verabschiedete Onlinezugangsgesetz (OZG) nicht nur die digitalen Leistungen selbst, sondern auch die Vernetzung der Dienste bis zum Jahresende 2022 verbindlich vorschreibt.
Welche rechtlich-organisatorischen Rahmenbedingungen hemmen den Weg der Hochschulen zur digitalen Verwaltung?
Die im Rahmen unserer Studie zum Stand der Umsetzung des OZG an den Hochschulen vorgenommene Analyse von rechtlichen Regelungen hat gezeigt, dass das OZG bzw. die E-Government-Gesetzgebung der Länder nicht allein die rechtlich-organisatorischen Rahmenbedingungen für den Weg zur digitalen Verwaltung bestimmen. Den zentralen fachlichen Rahmen für nahezu alle hochschulrelevanten Leistungen bildet einerseits das Hochschulrecht. Andererseits ist das Verwaltungsverfahrensrecht mit seinem Regelungshorizont ebenfalls heranzuziehen, wenn es um die operative Umsetzung von Verwaltungsleis-tungen im Hochschulbereich, insbesondere bei Aspekten von Schriftform- und Prüferfordernissen geht. Insofern sehen sich die Hochschulen einem komplexen Netz an rechtlichen Anforderungen insbesondere auf Länderebene gegenüber, was seitens der Hochschulen zu Unsicherheit und erhöhter Vorsicht bei der Gestaltung von Verwaltungsprozessen führt. Eine proaktive Praxis wie beispielsweise an der Universität Göttingen, die die Einschreibung komplett ohne Einreichung und Prüfung von Originalzeugnissen oder beglaubigten Kopien in Papierform vornimmt, ist die Ausnahme. Rechtliche Folgeprobleme bei einem Verzicht auf die manuelle Echtheitsprüfung erscheinen bei einer länderübergreifenden Betrachtung nicht ausgeräumt, selbst wenn die Verfahrenspraxis nach Aussage der Universität Göttingen mit den Anforderungen des Hochschulrechts in Niedersachsen vereinbar ist.
Können Kooperationen, auch mit außerhochschulischen Institutionen den Wandel zum E-Government in den Hochschulen fördern? Wenn ja, wie? Kennen Sie Beispiele?
Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Initiativen und Projekten, in denen sich Hochschulen zusammengeschlossen haben, um gemeinsam die Voraussetzungen für eine E-Government-Struktur zu schaffen. Genannt sei hier beispielhaft die „Koordinierungsinstanz Digitale Unterstützungsprozesse“ (KDU.NRW), in der die Hochschulen in Nordrhein-Westfalen bei der Umsetzung der Anforderungen des E-Government- und des Onlinezugangsgesetzes eng zusammenarbeiten, um hochschulübergreifend Synergien zu schaffen. Dank der Finanzierung auch durch das Land ist die KDU.NRW gerade dabei, mit den ebenfalls vom Land finanzierten E-Government-Beauftragten an den Hochschulen geeignete Strukturen zu schaffen, um u. a. Standardprozesse zu entwickeln, die an den Hochschulen umgesetzt werden können.
Ein etwas anderes Konzept verfolgt „bwUni.digital – Digitale Transformation administrativer Prozesse an den Universitäten“, das auf eine „kooperative Zusammenarbeit zwischen (den) Universitäten“ in Baden-Württemberg setzt, „um eine Ermöglichungs- und Innovationskultur für die digitale Transformation der administrativen Prozesse in den Universitäten zu schaffen“. In sog. Think Tanks wurden bis dato drei White Paper erarbeitet und veröffentlicht, die sich z. B. mit rechtlichen und technischen Aspekten einer möglichen Umsetzung von digitalen Unterschriften befassen.
Als Beispiel für aktuelle Initiativen in Form von Projekten seien – abgesehen vom zentralen Standardisierungsvorhaben XHochschule, an dem sich die Hochschulen aktiv beteiligen – die Projekte PIM und DIGIZ NRW genannt. Mit der vom BMBF geförderten Plattform für Inter*nationale Studierendenmobilität werden gemeinsam mit Hochschulen und Anbietern von Campus-Management-Systemen praktikable Lösungen für die Umsetzung der Anforderung des OZG und der Erasmus Charta für die Hochschulbildung (ECHE) erarbeitet, um insbesondere den digitalen Austausch von Prüfungsleistungen und Modulinformationen zu ermöglichen. Der soeben unter der Federführung des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie gestartete Feldtest Digitales Zeugnis, in dem die Ministerien für Schule und Bildung sowie für Kultur und Wissenschaft, die Bundesdruckerei, drei Hochschulen und die Stiftung für Hochschulzulassung (SfH) beteiligt sind, hat das Ziel, „digitale Zeugnisse gemäß einem abgestimmten Format zu erstellen und eine Unverfälschtheit mithilfe der Blockchain-Technologie prüfbar zu machen.“
Wenngleich die genannten Beispiele nur exemplarisch zu verstehen sind, zeigen diese eindrucksvoll, dass der Weg zum E-Government an den Hochschulen nur gemeinsam und vernetzt erfolgreich beschritten werden kann. Das heißt, die Hochschulen müssen mit Partnereinrichtungen wie der SfH oder den CMS-Anbietern sowie staatlichen Institutionen aktiv zusammenarbeiten. Die Implementation der in den gemeinsamen Initiativen entwickelten Standards, Prozessen und Anwendungen selbst bleibt am Ende jedoch in der Verantwortung der Hochschulen als operative Ebene.
Welche nächsten Herausforderungen sollten die Hochschulen angehen, um ihre infrastrukturellen Voraussetzungen zukunftsfähig weiterzuentwickeln? Und was benötigen sie dafür?
Neben der Nutzung von entsprechend ausgereiften Campus-Management-Systemen benötigen die Hochschulen sowohl leistungsfähige Dokumentenmanagementsysteme zur Bearbeitung und langfristigen Speicherung der digitalen Dokumente (Studierendenakte, Prüfungsakte etc.) als auch die technischen Voraussetzungen, um eine Anbindung an Landesportale (einschl. der Erarbeitung von Lösungen für eine Authentifizierung) zu ermöglichen. Hierbei sind nicht nur die Rechenzentren gefragt, sondern innerhalb der Hochschulen muss auf allen Ebenen ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass der bevorstehende digitale Wandel alle Bereiche der Hochschulen betreffen wird. Dies als Herausforderung und Chance zugleich zu begreifen und entsprechend in den Hochschulen die Umstellung zu befördern, wird Aufgabe der Hochschulleitungen sein, die auch bei auftretenden Schwierigkeiten oder Konflikten tragfähige Lösungen für ihre Hochschule erarbeiten müssen. Hierzu sollten nicht nur in den Hochschulen geeignete Governance-Strukturen unter Beteiligung der wichtigsten Stakeholder aufgebaut werden. Auch die Vernetzung mit hochschulübergreifenden Initiativen kann entscheidend dazu beitragen, die mit dem Ausbau des E-Government verbundenen Herausforderungen in den Hochschulen zu bewältigen.
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